Textrausch im Hanauer Ellis am 25. April 2020: »Unerhörte Dinge«

Unerhört! Eine Lesung des Skriptorium Seligenstadt mitten im Lockdown? Ja, für den 25. April war sie geplant, doch fand sie leider nicht statt. Wir hoffen, die Lesung im Herbst nachzuholen, aber ein Termin steht noch nicht fest. Hier schon einmal einige Beiträge und die zugehörigen Bilder zum Vorher-Lesen.


Erster Auftritt: Ein Beitrag des Nidderauer Autors Peter Jabulowsky:

Die Fürbitte

Sie suchte es. Sie betete und fand es nicht, seit Tagen – vergebens. In aller Spiritualität, deren sie fähig war, flehte sie die Schutzheiligen um Hilfe an. Stets schwebte es vor ihr, gleichgültig welcher Verrichtung sie sich hingab. Wenn sie die Augen schloss, schoss es mit übermächtiger Wucht auf sie zu, so dass sie erzitterte. 

         Um Gnade und Erlösung bittend hob sie den Blick zum Herrn Jesus, der milde vom Kruzifix herab lächelte, welches die kahle, graue Wand der Zelle dominierte.   

         Noch hatte sie nicht gewagt, den Mitschwestern ihre Leidenschaft zu offenbaren. Die Schwestern und auch die Mutter Oberin waren ihr zugeneigt. Würden sie ihr Ansinnen als unerhört empfinden?

         Schwester Felizitas arbeitete als Türhüterin. Auf diese Weise fand sie Kontakt zur profanen Gesellschaft, die ihr, im Widerspruch zum Armutsgebot des Ordens, das große Glück versprach. Falls sie sich nur traute. 

         Eines Tages hatte sie sich getraut. Doch danach vor Scham nie wieder, trotz ihres überschäumenden Verlangens.

         Schwester Felizitas fand sich hin und her gerissen. Die Lust, es zu tun, hatte einmal über die Furcht vor der Strafe des Herrn gesiegt. Das Pfand der Tat hatte sie diskret versteckt. Ihr Gewissen quälte sie, bis ihr Unbewusstes das Wissen um den Ort der Verwahrung barmherzig löschte. 

         Wochenlang quälte sie die Verzweiflung ob der begangenen Sünde. Und doch gefiel ihr die Gewissheit, dass sie damit Mitmenschen beglücken könnte. 

         Ach, würde sie das Pfand nur finden. Sie suchte hinter und unter dem kargen Mobiliar ihrer Zelle. Immer wieder an denselben Stellen. Erfolglos. Die Bürde der Verfehlung lastete schwer auf ihrem Gewissen. 

         Sie brauchte Hilfe. Welcher Schwester durfte sie sich anvertrauen? Welcher fühlte sie sich am nächsten?

         Felizitas suchte Erleuchtung im Meditationsraum.  Sie kniete auf eines der Bänkchen und flüsterte ihre Fürbitte: »Heilige Maria, Mutter Gottes, heiliger Antonius und alle Engel, erhöret meine Bitte. Helft mir in meiner Not. Lasst das Pfand mich finden. Bittet Gott, den Herrn, um Beistand. Amen.«

         Die Mutter Oberin legte sanft die Hand auf Schwester Felizitas´ Schulter: »Eile Schwester eile, endlich ist der Maler da, um die Wände neu zu streichen.«

         Außer Atem erreichte sie ihre Zelle. Der Maler hatte bereits die wenigen Möbel von der Wand weggerückt, in der Mitte des Raums zusammengestellt, mit einer Kunststoffplane bedeckt. Wie ein erhabener Seher stand er auf der Bockleiter vor dem Möbelhügel, hielt das Kruzifix hoch in der linken und einen Zettel in der ausgestreckten rechten Hand.

         Er blickte darauf, öffnete die Augen weit und hub an zu sprechen: »Na, da schau her. Wie fromm ist das denn? Da versteckt jemand seine weltliche Gier hinter unserem Herrn Jesus, – ist das nicht unerhört?!« 

         Schwester Felizitas sackte in sich zusammen. Von Scham und Sorge überwältigt erkannte sie, dass ihre voll Inbrunst vorgetragene Bitte unerhört geblieben war. Der Maler hob den Lottoschein in die Höhe und höhnte: »Der ist jedenfalls abgelaufen.«


Zweiter Auftritt: Ein Beitrag von Regina Loewel-Sailer

Traumzeit – Erfahrungen eines Steines

Erste Erfahrung

Nässe   Kühle 
Umspülung 
Abglättung 
Saugendes Greifen 
Calamari Babyarme 
Zehnfach 
Umklammerung im Tod 
Steinerne Verschmelzung 
Hinterlassene Spuren 
Unauslöschbar 

Zweite Erfahrung. 
Vogelflug 
Verdunklung 
Gewaltiger Flügelschlag
Schwarze fixierende Augen
Katapultierend 
Ich bin das Ziel 
Schnabelhieb 
Rückzug 
Kreischender Abflug 
Abschreckung
Meine Zeichnung
Meine Härte 
Meine Größe  
Ich schlafe weiter    

Dritte Erfahrung
Schnelle bewegende Stelzen 
Sie nähern sich 
Greifen 
Untersuchen
Betasten
Belecken 
Schleudern mich fort 
Unbrauchbar 
Meißeln sich ein 
In mein Gestein 

Vierte Erfahrung 
Punktgenau
Andere  Zeitlinie 
Gekerbt 
Jeder Punkt gezielt gesetzt 
Hinweise für Nachkommende 
Keiner wird je vergessen sein 
Ich bin Zeittafel  
Linienberg und Tal 
Anfang und Ende einer Strecke 
Geheimnisvolle Zeichen 

Fünfte Erfahrung 
Versteinerte Zähne 
Aufgelöstes Skelett
Nur eine Reihe bleibt 
Die Zähne sprechen
Geben bekannt:
Wer hören will, hört
Wer sehen will, sieht
Wer fühlen will, fühlt 
Zeugnis ablegen 

Sechste Erfahrung  Weich schmeichelne Mulde 
Daumenmulde
Ruhe 
Mute aus
Betrete große Räume
Verbinde Erfahrenes
Flüssig – Fest
EIN Steinleben

Noch nicht am Ende


Dritter Auftritt: Ein Text der Frankfurter Autorin Jane Moser

Das Übergangsobjekt

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, findet sich unter seinen Geschenken fast immer ein Stofftier. Die frischgebackenen Eltern packen es aus, streichen ihm gerührt mit einem Finger über den Kopf und setzen es zu ihrem Baby in die Wiege. Dort wacht es, fluffig und sauber, mit weichem Fell und glänzenden Knopfaugen, über das schlafende Baby. 

Die ersten Berührungen sind beiläufig. Bald greifen die kleinen Hände fester zu. Das Stofftier wird belutscht und erkundet. Einige Zeit später zaust das Kind seinen Pelz, zwirbelt den Schwanz und zieht an den Ohren. Nach ein- bis zwei Jahren, Fell und Augen nun schon deutlich matter, ist es tagsüber Freund und Spielgefährte, begleitet das Kind an den Frühstückstisch, in den Kindergarten und zum Sandkasten, bis es abends wieder vom Bad ins Bett geschleift wird. Es spendet Trost, wenn Rotz und Wasser fließen. Vielleicht wandert es einmal in die Waschmaschine. Dem Kind fehlt sein Geruch, und es sorgt dafür, dass er zurückkommt. 

Ein solches Objekt der Liebe heißt in der Psychoanalyse „Übergangsobjekt“. Viele Kulturen kennen das Phänomen. Wahrscheinlich hilft es kleinen Menschen, die Trennung von den Eltern auszuhalten. Selbst für Erwachsene behält der alte Seelentröster seine besondere Bedeutung. Andere mögen ihn hässlich finden mit dem räudigen Fell, dem einen Auge, dem gestopften Ohr – dennoch trennt man sich nicht von ihm. 

Vor Jahren bin ich in den Besitz eines solchen kaputtgeliebten Kuscheltieres gekommen. Das Exemplar stammt aus Chile und heißt „el peluche“. Das ist der spanische Begriff für Stofftier. 

Ich bekam es von einem Freund. Ich kannte Martin über Studienkollegen in Heidelberg. Zufällig hatten wir zur gleichen Zeit ein Auslandssemester Santiago de Chile verbracht und uns dort häufig getroffen. Kurz bevor wir wieder nach Deutschland zurückkehrten, hatte er sich in meine Kollegin Margerita verliebt, die als Bibliothekarin bei der UNESCO arbeitete, wo ich ein Praktikum machte. 

Wenn ich an diese Zeit denke, ist es Hochsommer. Wind mit kleinen Sandkörnern auf der Haut, Sommerkleider und Pisco Sour Gläser auf der hellen Promenade von La Serena am Pazifik. Die beiden Verliebten, er blond und die Statur eines Basketballspielers, sie zart, dunkel und verschwindet fast in seinem Arm. Sie lacht ununterbrochen. 

Meine Rolle war die „Alibi-Freundin“, die Margerita als Ausrede gegenüber ihren streng katholischen Eltern benutzte. Es war anstrengend. Wegen drohender Kontrollanrufe musste ich mit, wenn die beiden ausgehen wollten. Ich stand auf langweiligen Partys herum, während sie irgendwohin verschwanden. Das einzige Thema bei der Arbeit: El Martin. Ihre erste, große Liebe. Er war der Richtige und sie würde zu ihm nach Deutschland kommen. Endlich raus aus dem Smog der Riesenstadt und der engen Stadtwohnung, in der sie mit Eltern, Großeltern, Schwester, Schwager und deren Kindern lebte. Ich ließ mich zu diesem Wochenendausflug nach La Serena überreden, damit sie wenigstens eine Nacht miteinander verbringen konnten. Ich saß alleine im Café und machte mir Sorgen. 

Aber scheinbar war alles gut. Margerita bewarb sich sofort um eine AuPair-Stelle in Deutschland und erzählte mir schon kurz nachdem ich zurück in Heidelberg war am Telefon, dass sie etwas in der Nähe gefunden habe. 

Von Martin hatte ich seit der Rückkehr aus Chile noch nichts gehört. Ein paar Wochen nach dem Telefonat mir Margerita rief er mich an und wollte mich treffen. 

Erst als wir im Café saßen, begriff ich. Dass Margerita vor ein paar Tagen angekommen war, freute Martin gar nicht. Er war weitergezogen. Hatte eine neue Freundin. Er rieb sich die Augen. „Aber ich habe ihr peluche“, sagte er. „Es schaut mich immer so an.“ Er griff in seine Tasche und setzte einen Stoffhasen vor mich auf den Bistrotisch. „Du musst es nehmen und für sie aufbewahren. Sie meldet sich bestimmt bei dir.“

Das tat sie aber nie.


Vierter Auftritt: Christina Kunz aus Seligenstadt macht sich Gedanken über den perfekten Mann:

Christina Kunz liest „Der perfekte Mann“
Der perfekte Mann
 
Was mich an Männern interessiert
das sag‘ ich euch jetzt ungeniert!
 
Ich wäre ja gern ein gutes Vorbild -
bescheiden, tugendhaft und mild.
Denn was zählt, sind inn‘re Werte,
so Psychologen und Gelehrte.
 
Ist er zuvorkommend und nett,
will nicht beim ersten Date in‘s Bett,
hängt er gebannt an deinen Lippen,
am Bierglas kann er höchstens nippen,
Fußball ist ihm scheißegal
dafür baut er dir ein Regal,
und ist dein Wunsch auch noch so vage
er erfüllt ihn – keine Frage!
Er bringt dir jede Woche Pflanzen
und steht nicht auf blöde Emanzen,
ruft er dich jeden Abend an,
so ist er der perfekte Mann!
 
Doch leider muss ich protestieren
und diese Weisheit dementieren.
 
Denn das, wonach ICH gerne schau
ist nun einmal der Körperbau!
Ist er sexy, kann er lachen
und verrückte Dinge machen?
Ist er chic, kann er schnell laufen
und mir ein bisschen Luxus kaufen?
Das Wichtigste von allen Dingen:
Fährt er ein Auto mit vier Ringen?
Nicht so `nen Kombi oder Van!
Sportlich, schnell und sehr modern!
Und lässt er mich gar mal ans Steuer
dann ist er mir besonders teuer.

Fünfter Auftritt: Reinhard Franz mit einer Meditation über Schienstränge und Lebenslinien.

Stränge

Was ist es nur, was ich hier habe,
Verbundenheit in jeder Lage
und dennoch auf Distanz gehalten
den Abstand wahren, ohne Spalten
sonst gibt es ratterndes Getöse
wo langsam sich die Schraube löse.

Wege, in die Welt gelegt,
planvoll gedacht, dass sich bewegt,
was kraftvoll mit PS gezogen
oder auch von Menschen geschoben
die Wagen jedoch stranggebunden
Willensfreiheit hier nicht gefunden.

Manchmal sind die Welten klein
in denen Phantasie fängt ein
was ein großer Lebenstraum
findet auch Platz im kleinen Raum
doch je strenger ist der Plan
wird er schnell ein Lebenswahn.


Sechster Auftritt: Der Hanauer Autor und Tausendsassa Hans-Jürgen Lenhart:

Die Axt des Ex

Franz lebte schon lange ohne Freundin. Er hatte Angst vor einer zu festen Beziehung, die sich in dem Moment realisierte, wenn er mit einer Frau zusammenziehen würde. Eines Tages lernte er auf einer Feier bei Freunden in Berlin die reizende Franziska kennen und es sah ganz nach der großen Liebe aus. Franz und Franziska – alle Bekannten meinten, das muss doch was werden. Dennoch plagten ihn selbst nach einem halben Jahr Zweifel, ob er sie in seine Wohnung aufnehmen sollte. Im Bekanntenkreis rieten ihm alle, sich mehr zu öffnen, sonst würde die Beziehung wieder nicht lange halten. Also entschloss er sich Franziska  zu fragen, ob sie zunächst bei ihm einziehen wolle, woraufhin sie zusagte. Sie führten danach tatsächlich eine glückliche Beziehung. Nach ein paar Monaten musste Franz, da er Archäologie studierte, mehrere Wochen zu einem bedeutenden Gräberfeld im württembergischen Weingarten reisen. Franziska  konnte nicht mitkommen. Am Bahnhof verabschiedeten sie sich und sie versicherte ihm unter Tränen, dass sie drei Wochen ohne ihn nicht überleben könne. Sichtlich gerührt fuhr Franz zu seinem Arbeitsaufenthalt.

Als Franz wieder zurückkam, war irgendetwas anders an Franziska. Sie wirkte meist zurückhaltend und schließlich bat sie ihn mit ernster Miene um ein Gespräch. Dabei eröffnete sie ihm, dass sie sich in jemand verliebt hatte. Und nicht nur das, dieser Jemand war zudem noch eine Frau. Und als ob das nicht schon erschütternd genug wäre, gestand sie, sie hätte die Frau erst vier Tage vor seiner Rückkehr kennengelernt, aber sie wüsste, dass diese ihr alles geben könne, was er leider nicht habe. 

Franz war wie vor den Kopf gestoßen und fragte, nachdem er sich etwas gefasst hatte, was denn nun mit den ach so optimistisch besprochenen Plänen für ihr gemeinsames Leben sei. Aber Franziska  hüllte sich stattdessen von nun an in Schweigen. Er versuchte noch einmal einen Gesprächsansatz, indem er ihr ein mitgebrachtes Fundstück von seinen Ausgrabungen im Gräberfeld zeigen wollte, doch sie wies ihn ab. Da wurde Franz so von Enttäuschung übermannt, dass er sie hinaus warf. 

Franziska  aber machte nicht viel Aufhebens, ging umgehend zu ihrer neuen Freundin und sie fuhren direkt am nächsten Tag in den Urlaub, während Franziskas Möbel noch bei Franz blieben. Nach zwei Wochen kam sie zurück und wollte Franz wegen dieser Möbel sprechen. Sie sperrte die gemeinsame Wohnung auf, zu der sie noch den Schlüssel hatte, doch dieser war gerade nicht da. Als sie aber durch die Wohnung ging, musste sie feststellen, dass sie verlassen war. Franz jedoch hatte in der Zwischenzeit restlos alle Möbel, auch seine eigenen, sowie alle Türen mit einer alten verrosteten Axt, die mit einer roten Schleife versehen auf dem Boden lag, in unsäglich kleine Teile zerhackt. Diese waren in zwei sauber getrennte Haufen ordentlich aufgeteilt: Ihre Möbel und seine. An der Axt hing ein kleiner Zettel, auf dem stand: „Wurfaxt der merowingischen Franken, Typ Franziska, Gräberfeld Weingarten, 5. Jahrhundert“. Von Franz aber hat keiner, der ihn kannte, je wieder etwas gehört.

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Franziska_Weingarten_Grab_510.jpg

Siebter Auftritt: Dr. Dieter Petrosch aus Frankfurt, Reimbastler, Schlagerfan und Lebenskünstler:

Bit

In dem Archiv der Susi Rechenmaschinen-Entwicklungs-GmbH & Co. KGaA in Bitburg wurde eine Schnupftabaksdose mit einem kleinen Steckschlüssel-Einsatz mit Kreuzschlitz und ein Tagebuch bei Aufräumarbeiten gefunden. Beim Tagebuch handelt es sich um das von Conrad Otto Max Puter, mit Initialien C. O. M. Puter, tätig als Personnalchef (PC). Laut der Aufzeichnung  vom 1. April 1935 handelt es sich um den ersten Bit in einem Computer überhaupt. 

Der Tagebucheintrag beschreibt folgenden Hergang: COM Puter und sein Bruder und Kollege Conrad Otto Moritz Puter, der besseren Unterscheidung wegen COM2 genannt, tüftelten als die „Computer Brothers“ am 1. April 1935 an der neuen Susi-Rechenmaschine „Computer-1“. COM1 wollte von COM2 einen Steckschlüsseleinsartz mit Kreuzschlitz ausleihen. Auf die Frage: „Kannst Du mir das Dings ausleihen?“, kam die Antwort: „Und wie heißt das Zauberwort?“ „Kannst Du mir das Dings ausleihen? Bitte!“ “Bit schön.“ 

Und so entstand im Laufe der Zeit zwischen COM1 und COM2 eine Art verkürzter Dialog in der Weise: Bitte, ein Bit. Bitte, ein Bit, usw., wobei es sich nicht um ein Bier handelte, nicht während der Arbeit. Und eines Tages hieß es: „Ich pack zusammen, muß gehen. Bitte mein Bit zurück.“ „Habe ich Dir schon gegeben.“ Nein, gestern ja, heute nein.“ Nach langer Zeit vergeblichen Suchens hieß es: „Vielleicht hast Du ihn noch in dem Computer-1, schüttel doch mal.“ Und so war es: Das erste Bit in einem Computer, aus Versehen ist das dort einfach vergessen worden. Und wie es der Zufall will, ergab sich eine Woche später ein ähnlicher Fall, nur daß es sich um 2 Bits handelte, von dem einen Tag und dem Tag davor, und daß in dem verbesserten Modell  Computer-2. So machte der Witz die Runde, in einem verbesserten Modell gibt es mehr Bits. In Computer-1 klapperte 1 Bit, in Computer-2 klapperten 2 Bits. Durch Miniaturisierung und unter dem Einsatz modernster Technik ist es heute möglich, mehrere Millarden Bits unter stetiger Verbesserung der Leistung in einem Computer unterzubringen, ohne daß auch nur ein Bit klappert. Aber das allereste Bit in einem Computer war dieses hier:


Achter Auftritt: die Poetin Natalie Himmelsbach aus Hösbach-Bahnhof

food porn

zwei wochen lang. ein projekt. nur essen, mit dem man vorher geschlafen hat. grenzbereiche ausloten. forscher sein. erkunder. die begriffe neugierig mit leben füllen.

so hat man sich das vorzustellen: für den einstieg lebensmittel, die anatomisch gut zum vögeln geeignet sind. oder – aus weiblicher sicht, denn um die geht es hier vorrangig – um damit gevögelt zu werden. für die ersten erfahrungen empfiehlt sich glattes und leicht einzuführendes essen mit eher schmalem durchmesser. der klassiker ist die banane, da denkt sich bereits beim anblick der frucht die sauerei mit. alles stangenartige, grüner sellerie, spargel. hat natürlich keinen hohen nährwert. für abnehmwillige ein erfreulicher nebeneffekt. leicht gebogenes gemüse hat einen besonderen spaßfaktor.

dann für die experimentierfreudigeren: gewürzgurken, die saftigen, dicken, warzigen. würste. zunächst zimmerwarm, dann kühlschrankkalt zur steigerung der sensorischen wahrnehmung. tiefkühlkost. erbsen z.b. in großer zahl einzeln einführen, im körper auftauen, aber nicht zu weich werden lassen. wiener würstchen z.b. sind in jeder beziehung einfach zu handhaben, wenn auch vielleicht etwas phantasielos. später auch heißgerichte. möhren, gekochter lauch. saftet auch alles schön aus. leichten schmerz genießen lernen. vorsicht bei brühwürsten aus der pfanne. hier besteht ein deutliches verbrennungsrisiko.

nach dem sex ein schön gedeckter tisch. feines porzellan. die serviette muss nicht aus stoff sein, als kultiviertes utensil vorhanden aber schon. Tagsüber genügt ein schlichtes wasserglas. am abend bitte den geschliffenen weinkelch und kerzenlicht. es geht um ästhektik und inszenierung. die fotografische dokumentation als teil des akts. kunst erfordert die auseinandersetzung mit formalen kriterien. vergessen wir nicht: während der körper noch glüht, isst das auge bereits mit. das nachspiel als vorspiel. und ihr dürft zuschauen.


Neunter Auftritt: Bärbel Vogt aus Seligenstadt

Fäden

Entzünden sich glühend im
Freien Fall ein
Lächeln perlt aus deinen
Augen von
Lippen
Aufgefangen
Worte
Lautlos
Die nur ich hören kann
Erinnerung
Jeder Stein auf dem Weg
Kostbares Kleinod
Entlang des Pfades den wir mit
Sicheln
Freigelegt um schneller zu
Einander zu
Fliegen


Zehnter Auftritt: Ulla Keleschovsky

Unerhört
oder: Wo steckt der Teufel heute noch im Detail?

Sie hat meine Kinder geboren.

Sie hat mit mir eine gute Wahl getroffen.

Sie hat ein hübsches Gesicht, ist gut gebaut, mit genügend  Holz vor der Hütte, also ganz nach meinem Geschmack.

Außerdem entstammt sie einem Elternhaus, in dem der Mann noch Herr im Haus ist und nicht die Frau die Hosen anhat.

Ihr kurzzeitiges Aufbegehren am Anfang unserer Ehe, als sie sich weiterbilden wollte, vielleicht sogar studieren, habe ich ihr gleich ausgetrieben. “Zuviel Bildung schadet der Weiblichkeit”, habe ich ihr gesagt und “Schuster bleib bei deinen Leisten”. Das hat gewirkt, denn ähnliche Sätze kannte sie aus ihrem Elternhaus. Schließlich brachte ich das Geld mit nach Hause. Für Haushalt und Kinder war die Frau zuständig und das ließ sich nicht auch noch mit einem Studium oder einem Beruf vereinbaren.

Als sich ihre Mutter zu sehr in unsern Haushalt einmischte, habe ich sie in ihre Schranken verwiesen. Meine Mutter wusste besser, was ich will und was mir gut tut. Deshalb habe ich sie gebeten, meiner Frau dahingehend unter die Arme zu greifen. Sie soll es schließlich gut haben bei mir und das geht nur, wenn ich mich ganz auf mich konzentrieren kann.

Allerdings ist sie sehr anfällig für irgendwelche Krankheiten, was mir Sorgen bereitet, denn dann funktioniert zuhause nichts wirklich und das bringt mich zur Weißglut. Ich habe meine Mutter nie krank gesehen. Die jungen Dinger heutzutage sind wirklich sowas von überempfindlich.

Zum Glück reißt sie sich zusammen, wenn ich mal einen Kollegen mitbringe.

Es geht schließlich niemanden was an, wenn wir Unstimmigkeiten haben oder sie unpässlich ist.

Auch die Kinder wissen sich zu benehmen. Und wenn nicht, einen Klaps auf den Hintern hat noch keinem Kind geschadet.

Sie hat sich mit der Zeit gut eingefügt. Die Anfänge waren nicht einfach. Jetzt lächelt sie manchmal wieder und scheint glücklich zu sein. Dann nehme ich sie gern in den Arm und genieße ihre warme, weiche Haut.

Einmal, als ich arbeitslos wurde, ist sie mir beigestanden, hat mir zugehört und mich aufgebaut. Meinen nächtlichen Albträumen ist sie mit viel Zärtlichkeit begegnet. Doch am Tag danach ist es schwer gewesen, mich so ohnmächtig zu wissen. Das macht mich wütend, richtig wütend und dann ist am besten niemand in meiner Nähe.

Sie hat gut mit dem Geld, das in dieser Zeit knapp bemessen war, gehaushaltet. Doch es reichte hinten und vorne nicht, um sich nach außen ordentlich zu präsentieren. Da habe ich ihr erlaubt, eine Putzstelle anzunehmen, abends, wenn der Haushalt erledigt war, und die Kinder schliefen.

Ich habe wieder eine neue Arbeit gefunden. Da konnten wir uns auch eine größere Wohnung und einmal im Jahr ein paar Tage Urlaub leisten.

Sie hat mir, wie es sich für eine gute Ehefrau gehört, den Rücken frei gehalten.

Das hatte seinen Preis.

Wenn ich heimkam, sah ich immer nur in anklagende oder verheulte Augen.

Versteh’ einer die Weiber.

Unser Liebesleben blieb auf der Strecke, sodass ich mit meiner Sekretärin eine Liebschaft anfing. Man(n) muss eben sehen wo man bleibt. Ich kann mir schließlich nicht alles aus den Rippen schwitzen.

Dass ich mir dann für ihre Aktion mit den Pulsadern einen Unfall für den Hausarzt ausdenken musste, und dadurch fast meinen Zug ins Stadion zu dem wichtigen Endspiel meines Vereins verpasst hätte, war schon ziemlich heftig, um nicht zu sagen, unerhört.

Wie konnte sie so unsensibel sein. Sie hat doch alles.


Elfter Auftritt: Ein Text des Mitbegründers und der guten Seele des Skriptorium Seligenstadt Sven Buchsteiner:

PFUSCH AM BAU

Schlamperei oder Materialfehler – hätte alles anders laufen können?? – titelte sogar die landesweite erscheinende tschechische Boulevard-Zeitung „Blésk“ in einer Sonderausgabe am 13. Dezember 2019. Das Massenblatt griff die bahnbrechenden Erkenntnisse eines im Mai 2019 erschienen Papers in der historischen Fachzeitschrift „Bohemian Medievial Studies“ auf. In dem Paper behauptete der emeritierte Mediävist und Bauhistoriker Prof. Pavel-Ondreij Horák nichts minder, als dass DIE deutsch-böhmische-europäische Tragödie schlechthin hätte verhindert werden können: Der 30jährige Krieg. Alles wäre ganz anders gelaufen, wenn es nicht schon damals den weit verbreitenten Pfusch am Bau gegeben hätte. 

Eine Erkenntnis, die nicht nur die wissenschaftliche Community elektrisierte, sondern auch in den tschechischen und europäischen Tageszeitungen einen hitzig geführten Diskurs über die Geschichtsdeutung und -erzählung auslöste. Der osteuropäischen Feuilletons überschlug über Monate in Für- und Wiederrede über Horáks Positionen.

Doch worum ging es in Horáks Thesen genau? Der Historiker, Koryphäe seines Fachs, aber aufgrund seiner bisweilen kauzigen Geschichtsdeutung im Wissenschaftsbetrieb weitgehend isoliert, ging dabei zurück auf die Anfänge des 30jährigen Krieges: Den turbulenten Ereignissen des 23. Mai 1618, die als 2. Prager Fenstersturz in die Geschichte eingehen sollten. An dessen leidvollen Ende fielen ca. 1/3 der Bevölkerung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, ca. sechs Millionen Menschen, dem Krieg zum Opfer und die Schweiz und die Generalstaaten, die heutigen Niederlande fanden ihre Geburtsstunde. Hätten alle diese Gräueltaten verhindert werden können? Sähe die Landkarte Europas heute ganz anders aus?

Die Horák’sche These griff dabei den Ort, oder spezieller den Fensterrahmen auf, in dem die als Todesurteil geltende Defenestrierung der drei katholischen Statthalter (Wilhelm Slatva, königlicher Statthalter, Jaroslav Borista Graf von Martinitz, Kanzleisekretär Philipp Frabricius) stattfand. Nach einem Schauprozess wurden die drei katholischen Adeligen durch aufgebrachte protestantische Stände in den zweiten Stock des Seitenflügels des ehemaligen Königspalasts gezerrt und mehr gewaltsam als feierlich aus dem Fenster geworfen. Die drei Herren überlebten auch zum großen Wunder des Lynchmobs den Sturz aus 17 Meter Höhe nahezu unbeschadet. 

Horák führte dies, hier folgte er der tradierten Lehrmeinung, auf die aufgrund der Statik des Turms und der Topographie des Burgbergs schräg gebauten Wände des Bergfrieds zurück. Die armseligen Delinquenten seien sich am Gesträuch krallend eher die Mauer hinuntergerutscht als senkrecht in die Tiefe gestürzt. Auch die damalige Mode, selbst im Spätfrühling noch dicke Woll- und Pelzmäntel zu tragen, hätten die drei Herren vor bleibenden Verletzungen geschützt. Allein Slatva, der königliche Statthalter zog sich ein blutendes Loch im Kopf zu. 

Doch gerade diese Verletzung machte Horák stutzig. Er hatte sich im Laufe seiner steinigen wissenschaftlichen Karriere zu einem detailverliebten Pedanten mit forensischem Blick entwickelt. Er sah mehr als seine Kollegen. Bohrte sich gedanklich immer tiefer in die Ereignisse des 23. Mai 1618. Imaginierte er sei dort gewesen, er war Slatva, in den Fängen seiner Häscher, er, er, er… „Die Verletzung ist der Schlüssel, die Verletzung“ schrie er zu seiner Frau Borbara aus seinem Studienzimmer herunter, die seine Eigentümlichkeiten seiner wissenschaftlichen Forschung stets still und wohlmeinend ertrug und auch immer wieder für die szenische Nachstellung historischer Wendepunkte hatte herhalten müssen.

Zwar schrieb Slatva selbst, dass er sich an einem Stein oder dem Fenstersims den Kopf aufgeschlagen hätte. Jedoch die privaten Aufzeichnungen seines behandelten Medicus Adam Nemec ließen eine ganz andere Deutung zu. Dieser beschreibt in seinem Tagebuch, dass die Blessur als klaffenden Riss auf der Kalotte des Leittragenden, die nur schwerlich hätte behandelt werden könne und eine komplette Scherung des Haupthaars des Herrn Slatva zur Folge hatte. Es handelte sich also nicht um eine Verletzung an der Seite des Schädels oder im Gesicht, wie es der Sturz auf den Fenstersims vermuten ließe, sondern auf der Mitte des Kopfs. Horáks Vermutung ließ nur einen Schluss zu: Slatva und seine Getreuen wurde nicht etwa durch ein geöffnetes Fenster in die Tiefe gestoßen, sondern um ihr Leid zu vergrößern, wie ein Rammbock, durch ein geschlossenes, mit Fensterläden verrammeltes Fenster.

Und Horák hatte auch schon den Beweis. Ein Zufallsfund aus seinem Archiv brachte ihn auf die heiße Spur. Während großer Renovierungsarbeiten zur 770 Jahrfeier der Prager Burg vor zehn Jahren, die er mit seinem Institut wissenschaftlich hatte begleiten dürfen, wurde im Unterputz an der Außenseite des Defenestrierungs-Zimmers drei verbogene Scharniere freigelegt. Eben an jenem linken dritten Fenster, aus dem die Adeligen buchstäblich fallengelassen worden waren. Von Efeu bedeckt waren sie bisher nicht weiter aufgefallen. Nur noch die Spitzen der Holme der ehemaligen Fensterläden waren erkennbar. Doch waren sie links allesamt verbogen, während die drei anderen auf der anderen Seite des Fensters noch gerade waren. Was war dort passiert?

Seinem Gespür folgend ließ Horák sowohl ein verbogenes als auch ein intaktes Scharnier aus dem Archiv des Instituts holen und diese im Institut für Materialwissenschaft an der Uni Stuttgart mit der C14-Methode und weiteren bildgebenden Methoden untersuchen. Die Ergebnisse waren eindeutig: Sowohl das Röntgen als auch das elektronische Mikroskopie konnten nicht lügen: Während die intakten Scharniere keine Anzeichen auf Sprödigkeit aufzeigten, waren die anderen durchzogen von mikroskopisch-kleinen Haarrissen, die zwangsläufig zu einer Sollbruchstelle hätten führen müssen. „Schlampige Gussarbeit“ greinte er im Stillen, als er über die Ergebnisse des Berichts schaute.

Auch die molekulare Zusammensetzung der Fundstücke war anders. Waren die stabilen Scharniere mit Proben aus dem böhmischen Erzgebirge vergleichbar, stimmten die verbogenen Stücke mit Erzfunden aus dem Westerwald über ein. Diese galten damals als billige Massenware und waren günstig in der Anschaffung. Scheinbar hatten es die Bauleute hier nicht so ernst genommen und in seinen Augen eklatanten Pfusch am Bau betrieben. „Es hätte alles ganz anders laufen können“ durchfuhr es ihn wie einen Blitz. 

Auf Basis dieser Funde konnte er seinen Aufsatz für die „Bohemian Medievial Studies“ aufbauen. Er sollte sein wissenschaftliches Spätwerk werden, das einen bereits zu Ende erzählten mediävistischen Diskurs wiederbeleben sollte. Nur fehlten noch zwei Beweise für seine unumstößlichen Thesen:  1. Warum waren die Fensterläden geschlossen gewesen? Und 2.: Welche Kraft brauchte es, um das Scharnier derart zu verformen?  Das erstere war schnell geklärt: An jenem 23. Mai 1618 entlud sich ein schlimmes Unwetter über der Stadt. Dies ging aus zahlreichen Handschriften aus dem Prager Stadtarchiv hervor. 

Die Deformation war weitaus schwerer herzuleiten. Auf die Lösung brachte ihn ein befreundeter Wissenschaftler. Dr. phil. Knut Oloffson war der ebenfalls emeritierte Leiter des Lehrstuhls für experimentelle Archäologie an der Universität von Uppsala. Oloffson war führend im Nachbau historischer und prähistorischer Lebenswelten. Aus Materialien der gleichen Epoche und den gleichen Fundorten ließ Horák auf Oloffsons Ratschlag hin, in einem Steinbruch unweit von Prag einen Aufbau des Fensters nachbauen. 

Eigentlich wollte er seine Frau Barbora für den Versuchsablauf gewinnen und sie gegen den Aufbau stoßen, war sie doch ungefähr gleich groß wie ein ausgewachsener Mann des 17. Jh., doch als diese seine experimentelle Spinnerei dankend abgelehnt hatte, mussten Schweinehälften als „Slatva-Dummy“ herhalten. Mehrere Studenten seines Instituts, die er im Rahmen eines Blockseminars für die Aufgabe gewinnen konnte, rammten mit vereinten Kräften, so wie es einst die protestantischen Stände mit Slatva taten, Schwein um Schwein gegen den Aufbau. 

Der erste Versuch scheiterte, weil die Sau zu tief angesetzt war. Aber schon der zweite Versuch brachte den Erfolg. Mit zwölf Metern Anlauf, die genaue Distanz des Turmzimmers von der Tür bis zum Fenster, krachte der Kadaver auf das Holz. Die Scharniere aus dem Westerwald gaben quietschend nach und die Sau stürzte in die Tiefe. Die böhmischen hingegen blieben stabil. Da er sich nicht angreifbar machen wollte, hatte er mehrere Aufbauten anfertigen lassen. Jedes Mal kam er zu den gleichen Ergebnissen, die er auch auf Videokamera aufzeichnen ließ. Er war am Ziel. 

Warum die protestantischen Stände gerade dieses Fenster wählten und nicht eines der anderen konnte er nicht herleiten. Vielleicht hätten diese auch gehalten, waren sie doch aus böhmischer Manufaktur. „und alles wäre ganz anders gekommen“ dachte er sich. Er schrieb es der allgemeinen Raserei und Blutrausch der beteiligten Aufrührer zu, einem aufgeladenen konfessionellen Tohuwabohu, das auch die Hinrichtung gläubiger Christen durch Christen erlaubte.  

Aber solche Details waren auch nicht mehr von großer Relevanz. In seinem Artikel entwarf er nahezu fantastische alternative Geschichtsverläufe, die Irrelevanz des 30jährigen Kriegs, ein anderes Europa ohne 1. und 2. Weltkrieg und Kommunismus, das Bild einer ganz anderen Geschichte, eine Utopie eines historischen Spätwerks, von jemandem, der es noch mal wissen wollte. 

Die Geschichte schlug ein wie eine Bombe. Der Boulevard griff sie auf, das Stadtmarketing sah sich gezwungen die Touristen-Broschüren einzustampfen und neue, korrigierte Versionen zu drucken, selbst eine Fernsehserie war im Gespräch. Horák wurde auf einige Symposien eingeladen und war ein gern gesehener Redner in den Prager Schwarzbierkellern. Chinesische Reiseveranstalter wollten mehr über den schweinewerfenden Professor wissen und buchten Extra-Touren durch die Prager Hofburg. Sogar chilenische Blogger griffen den Diskurs auf. Zwar kamen aus wissenschaftlichen Kreisen vereinzelte und berechtigte Zweifel an seiner These, doch diese wurden, eben wie einst seine, als Einzelmeinungen abgetan, zu schön und zu bedeutend klang Horáks alternative Geschichte. Im Defenestrierungsraum wurde mit Mitteln des europäischen Strukturfonds eine Vitrine aufgebaut, die die Scharniere gebührend inszenierte und ein anschaulicher Kurzfilm wurde mit seinen Original-Kommentaren produziert. 

Seine sonore Stimme klang blechern zum Abschluss auf Tschechisch, Englisch, Mandarin und Deutsch aus dem Lautsprecher: „wie Pfusch am Bau, ein kleines Scharnier, den Lauf der Welt verändern kann. Schauen Sie selbst, lassen Sie sich entführen, alles andere ist Geschichte.“


Zwölfter Auftritt: Bernhard Bauser aus Köln, Stuttgart, Frankfurt, Offenbach, Obertshausen, Mainhausen und Seligenstadt, Mitbegründer des Skriptoriums

Bernhard Bauser liest „Wie steht’s mit dem Kind?“

Wie steht’s mit dem Kind?

Hat es getrunken?
Hat es schnell getrunken, oder eher langsam?
Hat es genug geschlafen?
Ist es gewaschen?
Ist es gebadet?
War es an der Luft?
Wurde es herumgetragen?
Hat es auf dem Bauch gelegen?
Zu viel vielleicht?
Köpfchen nach links, oder nach rechts?
Zu viel vielleicht nach links?
Zu wenig vielleicht nach rechts?

Liegt es seitlich im Kinderwagen oder auf dem Rücken
Hat es geschrien?
Wie hat es geschrien?
Hat es sich leicht wieder beruhigen können?
Hat es nur die rechte, oder auch die linke Brust gehabt?
Schläft es ein beim Stillen?
Reicht die Muttermilch, oder muss zugefüttert werden?
Riecht die Muttermilch sauer?
Zu welcher Tageszeit wurde es gesäugt?
Wann genau denn, um drei?
Oder schon am Vormittag?

Hat es was in der Windel?
Hat es genug in der Windel?
Klebt Haut an der Windel?
Ist das Kind wund am Popo?
Wurde es eingecremt?
Oder wird Puder verwendet?
Hat das Kind heute schon die Fluortablette bekommen?
Wird es nach jedem Säugen gewickelt?
Welche Farbe hat der Schiss?
Braun, grün oder orange?
Ist er flüssig, oder trocken, oder krümelig?
Oder eher matschig?

Ist es quengelig?
Ist es lieb?
Ist es geduldig?
Hat es Pickelchen?
Hat es einen Ausschlag?
Hat die Mutter Zitrusfrüchte gegessen?
Nimmt das Kindchen zu?
Nimmt es zu wenig zu?
Ist es schon ein bisschen dick?
Hat es schon dicke Bäckchen?
Wird das Kind rot beim Schreien?
Hat es zwei oder nur einen Body an?

Will es den Nucki?
Will es den Nicki oft, oder eher selten?
Kann es ohne den Nicki einschlafen?
Wird dem Kind vorgesungen?
Waren viele Leute zu Besuch?
Hatten sie das Kind auf dem Arm?
Oder haben sie’s nur angeguckt?
Macht das Kind Bäuerchen?
Hat das Kind Blähungen?
Ist ihm der Bauch gestreichelt worden?
Hat ihm jemand auf den Rücken geklopft?
Ist der Bauch rechts herum oder links herum gestreichelt worden?

Schläft das Kind bei den Eltern im Bett, oder im eigenen Bettchen?
Hat es ein eigenes Zimmerchen?
Wechselt das Kind oft vom einen Raum zum anderen?
Ist das Kind unleidlich?
Hat es viel Körperkontakt?
Wird es angelächelt?
Wird mit ihm gesprochen?
Wird ihm das Händchen gehalten?
Liegt das Köpfchen vielleicht unten?
Wurde das Kind bei Vollmond gezeugt?
Hat es die Augen offen, oder eher selten?
Ist der Fernseher oft an?

Ist es zu kalt in der Wohnung, oder eher zu warm?
Werden die Räume ordentlich gelüftet?
Wie oft wird gelüftet?
Stehen Wasserschalen auf den Heizkörpern?
Gibt es W-Lan in den Räumen?
Ist das Kind oft in die Decke gewickelt?
Wird es eng in die Decke gewickelt?
Werden die Arme miteingewickelt?
Wird der Hals muteingewickelt, oder bleibt er frei?
Bleibt das Kind auch manchmal nackt?

Dann ist alles normal.


Zugabe und letzter Auftritt: Noch einmal Jane Moser, die über Anfangs- und Endpunkt allen Schreibens reflektiert.

Das weiße Blatt

Des einen Freud, der and’ren Leid – Verheißung oder Verhängnis, je nach Abgabetermin oder Vorhaben. Ein Gegenstand jedenfalls, der im Sortiment keiner Textschmiede fehlen dürfte. Er lässt Raum für wilde Spekulation oder völlige Gleichgültigkeit. Etwa als Gedicht, das nicht gedichtet wurde. Auch als der ungeschrieben gebliebene Roman. Oder lediglich als ein einziger Gedanke, den es sich ohnehin nicht gelohnt hätte zu notieren – oder vielleicht doch, wer weiß es schon? Stilistisch weder platt-schwülstig, noch allzu nüchtern-deskriptiv.  Von keiner nicht genehmen politischen Gefärbtheit, ebensowenig unbotmäßig satirisch und allein deswegen perfekt für die heutige Zeit, da es ganz sicher niemandem zu nah tritt, weder gegendert, genudged oder geframed. Je nach Lust und Laune oder nach vorliegendem Gutachten sind die nicht-Gedanken zielführend einsetzbar, es besteht nicht die Notwendigkeit, sie schlüssig begründen zu können. Eigentlich muss niemand sie überhaupt verstanden haben. Und: Selbst wenn entschieden würde, die Aussagen ganz zurückzuhalten, so wäre im Grunde nichts Wesentliches verschwiegen. 

Auch das Manuskript einer ungehaltenen Rede manifestiert sich in diesem weißen Blatt. Es ist die Tatsache, dass alles bereits gesagt ist, nur noch nicht von jedem, konsequent zu Ende gedacht. Keine Buzzwords und Hashtags, kein Bullshit Bingo. 

Es ist die nicht getätigte Erfindung, erfordert kein Patent, kein Experiment, keine Produktion und ist damit auch klimaneutral und in seiner Inhaltslosigkeit konsequent nachhaltig. CO2 neutral, selbstverständlich. Daraus abzuleiten ist der Post, den es nie gab, der Kommentar, der nicht abgegeben, der Leserbrief, der nicht verfasst wurde. In seiner blütenweißen Inhaltsleere ist diese Projektionsfläche der Sehnsuchtsort für Nichtpoeten und Unpolitische, für Leute, die nichts zu sagen haben, die Insta-Story für Social-Media-Verweigerer*innen und für alle Influencer, Innovatoren oder die, die es gerne sein möchten, das Manifest der Stunde:

Why not be really innovative and just shut up? In diesem Sinne: Habe die Ehre.